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Interview: Coopetition als ein Teil der Lösung für den Fachkräftemangel

24. Mai 2022 | von Tobias Dankl

Wie die Wiener Linien Fachkräftemangel und Digitalisierung managen.

Die Pensionierungen der „Baby-Boomer“ stellt viele Unternehmen vor eine große Herausforderung. Die rasch fortschreitende Digitalisierung nahezu aller Lebensbereiche, ist eine weitere, ähnlich gewichtige Herausforderung.

Andreas Kollegger, Leitung Strategische Planung und technische Ausbildung bei den Wiener Linien, gibt vor seinem Vortrag bei den INSTANDHALTUNGSTAGEN 2022 Einblicke, wie die Wiener Linien am Beispiel Fahrzeugtechnik diese zwei parallelen Themen in eine große Chance drehen wollen. Er zeigt auf, in welchem Spannungsfeld sich das Unternehmen, das zur kritischen Infrastruktur gehört, befindet.

Elektrik und Mechanik bleiben zentrale Themen, die verschwinden nicht einfach.

Herr Kollegger, was sind aus Ihrer Sicht momentan die größten Herausforderungen, denen sich die Wiener Linien stellen müssen? 

Die zwei größten Herausforderungen sind einerseits, dass die Baby Boomer langsam aber sicher in Pension gehen und dadurch viel nicht strukturiert abgelegtes Wissen verschwindet. Und andererseits, dass sich gerade im Fahrzeugbereich die Technologie disruptiv schnell weiterentwickelt. Die ‚Klassiker‘ Mechanik und Elektrik, bleiben im vollen Umfang erhalten und entwickeln sich weiter, aber dazu kommt jetzt ein völlig neuer, riesiger Teil ‚Embedded Systems und Software‘, der sich um Potenzen schneller weiterentwickelt. Und das ist sehr anspruchsvoll. Es geht hier im Speziellen nicht darum, einen einzelnen Chip zu verstehen, sondern darum, das Gesamtsystem – Stichwort Systems Engineering – zu verstehen. Dafür benötigt man speziell ausgebildete Personen in Berufsbildern, die es in unserer Branche vor 10 Jahren noch gar nicht gegeben hat.  

Wir haben das für uns als Wiener Linien als zwei wesentliche Herausforderungen definiert, sehen darin aber in der Kombination dieser beiden eine große Chance, die wir nutzen wollen: Wir haben frei werdende Stellen, die dadurch entstehen, dass wir Personal etwa durch Pensionierungen verlieren. Einen nennenswerten Teil dieser Stellen wollen wir aktiv mit Personen aus der ‚next generation‘ besetzen – also hier bewusst kein „weiter wie bisher“. Dabei ist uns aber natürlich bewusst, dass es die Menschen, die wir benötigen, aktuell weder in der Anzahl noch mit den komplexen Qualifikationen ‚am Markt‘ gibt.  

Gleichzeitig ist mir wichtig, dass gesehen wird, dass es nach wie vor und natürlich auch in Zukunft in hohem Maße sehr wertvolles operatives Personal braucht. Elektrik und Mechanik bleiben zentrale Themen, die verschwinden nicht einfach.

Es braucht zukünftig also neben den ‚Klassikern‘ auch Kompetenz im Bereich Digitalisierung..  

Ja genau, aber das muss ich klarstellen – es gibt sehr viele, die über Digitalisierung und IT sprechen. Berater, Anbieter, usw. Das hat allerdings teilweise mit dem, was wir unter IT verstehen und brauchen eher wenig zu tun. Wir sprechen von Industrial Control Systems. Das sieht nicht sexy aus, das ist komplex. Unsere Programmierer müssen erst das physische System, die Mechanik, verstehen, erst dann können sie dazu nützliche Softwarelösungen programmieren. Man subsummiert dies in Expert*innenkreisen unter Advanced Mechatronics. Wir vernetzen komplexe mechatronische Systeme auf allen Ebenen und sehr umfassend mit Software. Das ergibt neuartige, komplexe, integrierte Gesamtsysteme mit hohem Softwareanteil – das ist alles außer trivial. Die zu beherrschen lernt man nicht in einem Youtube-Video. Das ist, wenn Sie so wollen, echte Ingenieurskunst!  

Und dann muss man noch bedenken, dass die Wiener Linien zur kritischen Infrastruktur gehören und täglich etwa 1,6 Mio Fahrgäste transportieren. Das ergibt erhöhte Anforderungen an die Zuverlässigkeit der Systeme? 

Stellen sie sich einfach Folgendes vor: Wir befördern bis zu fast 1.000 Menschen in einem U-Bahn Zug. Fährt eine U-Bahn aufgrund eines technischen Defektes auf eine andere U-Bahn mit wiederum 1.000 Personen haben sie eine Situation, die niemand möchte. Bei uns geht es immer um Menschenleben. Wir betreiben geschützte, geschlossene Systeme. Allein eine fehlerhafte Weiche kann großen Schaden anrichten. Einstein hat gesagt, man muss sich die Dinge so einfach wie möglich machen, aber – und das ist jetzt wichtig – auch nicht einfacher. Das müssen wir auch bedenken.  

Wenn man erstmal Jahre mit detaillierter Strategieentwicklung verbringt, ist der Zug nicht nur schon abgefahren, sondern der übernächste längst am Gleis.

Welche konkreten Punkte möchten Sie anderen Verantwortlichen mit Technik-Teams mitgeben? 
  1. Man muss die Technologie beherrschen. Beherrschen bedeutet, man muss sie ansehen, testen, in der Tiefe verstehen, ausprobieren. Und man muss dabei trotzdem sehr rasch ins Tun kommen. Wir lösen das bei den Wiener Linien mit sogenannten Technologie-Sprints. Sie kennen das vielleicht aus der Software-Entwicklung, man definiert einzelne Technologien, wie etwa Augmented Reality oder Predicitive Maintenance Anwendungen, die in kurzen, intensiven Sprints ausgetestet werden. Ist der Einsatz sinnvoll, entstehen sogenannte Leuchtturmprojekte, die dann breit in die Linie ausgerollt werden. Wenn man erstmal Jahre mit detaillierter Strategieentwicklung verbringt, ist der Zug nicht nur schon abgefahren, sondern der übernächste längst am Gleis.
  2. Wir müssen selbst ausbilden. Wir mussten und müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir die Menge an Menschen mit den ganz speziellen definierten Qualifikationen nicht am ‚freien Markt‘ finden. Darum sind wir schon vor längerer Zeit dazu übergegangen eine große, breite Masse an Personen selbst in-house auszubilden. Das startet bei den Wiener Linien bereits mit einer hochwertigen Lehrlingsausbildung und geht bis hin zur Qualifizierung von ausgewiesenen Fachexpert*innen. Die Ausbildung von Fachexpert*innen erfolgt bei uns in enger Abstimmung mit Partnern, wie Herstellern und spezialisierten Beratungsunternehmen. Wir investieren intensiv in diese strategische Personalentwicklung, ins Personalmanagement und -Recruiting.  

Generell möchte ich dazu einladen, größer zu denken. Denken Sie an die geballte Power der Techniker*innen in Europa! Das ist jetzt sehr pointiert formuliert, aber was mir vorschwebt ist eine Coopetition. Wir befinden uns natürlich im ‚war for talents‘ im gegenseitigen Wettbewerb, aber gerade im Bereich der Ausbildung neuer Fachkräfte macht es Sinn, Kräfte zu bündeln und gemeinsam auszubilden, voneinander zu lernen und gewisse Wege gemeinsam zu gehen.  

Herzlichen Dank Herr Kollegger für dieses Plädoyer! Wir freuen uns schon sehr auf Ihre Ausführungen am 30.06. im Rahmen der Instandhaltungstage. Zu guter Letzt: Was sagen Sie, warum muss man beim Fachkongress mit dabei sein? 

Weil es dort genau die Praxisnähe gibt, die Mehrwert stiftet. Dort treffen Sie renommierte Expert*innen, Frauen und Männer, aus der Praxis, die Ahnung haben. Es gibt kompakte Inputs ohne Blabla. Und die Instandhaltungstage sind natürlich auch für das Thema Coopetition sehr wertvoll – dort gibt es viele Möglichkeiten zum Netzwerken. Ich freue mich schon darauf!

Wir freuen uns schon sehr auf Ihre Einblicke! Dankeschön Herr Kollegger, dass Sie sich die Zeit für unser Interview genommen haben!  

Über die INSTANDHALTUNGSTAGE:
Vernetzung, Erfahrungs- und Wissensaustausch stehen seit Beginn beim Branchentreffpunkt, der von den Instandhaltungsexperten von dankl+partner consulting & MCP Deutschland gemeinsam mit Messfeld GmbH veranstaltet wird, im Mittelpunkt. Alle Infos zum Vortrags- und Trainings-Programm finden Sie auf www.instandhaltungstage.at

Datum: 28.-30.06.2022  |  Ort: Messezentrum Salzburg

Zielgruppe: Der Branchentreffpunkt für Management und Technik richtet sich an Fach- und Führungskräfte aus Technik, Instandhaltung und Facility Management, die für die Zukunft gerüstet sein wollen. Spannende Vorträge aus Praxis und Forschung mit einem Mix aus innovativen, technischen Lösungen und Managementthemen zur effizienten und nachhaltigen Organisation von Instandhaltung und Asset Management, erwarten die Teilnehmer im Rahmen des Fokustages. Die Praxistrainings sind als intensive Schulungstage konzipiert.